Narada und Gott -

 

Wie wirklich ist die Wirklichkeit


Gott und ein Weiser namens Narada laufen Seite an Seite über eine endlose Wüste und starren auf die große Leere hinaus. Nach einiger Zeit wendet sich Narada an Gott und fragt: „O, größter Herr, was ist das Geheimnis hinter den Erscheinungen der Welt und dem Leben, das alle Geschöpfe darin führen?“

 

Gott lächelt und schweigt.

 

Sie gehen weiter. „Kind“, sagt Gott nach einer Weile und schaut zum Horizont, „die Hitze der Sonne hat mich durstig gemacht. Wenn du ein kleines Stück weitergehst, wirst du einen Fluss finden. Folge ihm, bis du zu einer Stadt kommst, gehe dann in ein Haus und hole mir einen Becher kühlen Wassers.“

 

„Sofort“, antwortet Narada und wandert los.

 

Als er etliche Minuten durch die Wildnis gelaufen ist, trifft Narada tatsächlich auf einen Fluss. Dahinter liegt eine geschäftige Siedlung. Er nähert sich einem ordentlich aussehenden Bauernhaus und klopft an die alte Holztür. Sofort öffnet ihm eine wunderschöne junge Frau. Ihre Augen sind strahlend und merkwürdig. Sie erinnern ihn an die Augen des Großen Herrn. Sobald Narada in diese Augen blickt, vergisst er Gottes Anweisungen und den Zweck seines Besuches.

 

Das Mädchen bittet ihn herein, bietet ihm eine Erfrischung an. Drinnen scheinen die Eltern des Mädchens auf die Ankunft des Weisen gewartet zu haben, und es steht eine Auswahl an köstlichen Speisen bereit. Niemand fragt, warum er gekommen ist oder was er hier will. Es ist, als sei er einfach ein alter Freund, der viele Jahre weg war und nun wieder da ist. Narada bleibt bei dieser liebenswürdigen Familie, genießt ihre Gastfreundschaft und bewundert insgeheim die Schönheit der jungen Frau. Eine Woche verstreicht, dann eine zweite. Narada beginnt, sich an den täglichen Verrichtungen auf dem Bauernhof zu beteiligen, und bald fordert die Familie ihn auf, als Dauergast zu bleiben. Froh willigt er ein, und es vergeht noch mehr Zeit. Nach vielen idyllischen Tagen bittet Narada schließlich um die Hand des Mädchens. Der Vater ist hoch erfreut. Er meint, genau das hätten alle erhofft.

 

Narada und die junge Frau heiraten und richten sich im Haus ihrer Familie ein. Bald schenkt sie ihm einen Sohn, dann einen zweiten und schließlich eine Tochter. Narada macht im Dorf einen kleinen Laden auf, der bald floriert. Als die Eltern seiner Frau sterben, wird er zum Familienvorstand. Die Zeit vergeht, und die Leute aus dem Dorf verlassen sich in finanziellen und persönlichen Angelegenheiten immer mehr auf Narada. Bald wird er zu einem wichtigen Mitglied des Rates. Schließlich besteht sein Leben ganz aus den natürlichen Freuden und Sorgen, die mit der Existenz in einer kleinen Stadt einhergehen. So verläuft das Leben viele Jahre sinnvoll und gedeihlich.

 

Da verdunkeln sich eines Morgens in der Regenzeit die Himmel, und ein ungewöhnlich starker Regensturm bricht hernieder. Bald tritt der Fluss über die Ufer und das Wasser steigt so hoch, dass es die Stadt zu vernichten droht. Ganze Häuser werden einfach weggespült.

 

Gegen Abend scheint es gewiss, dass der Sturm nicht nachlassen wird und dass es keine Möglichkeit gibt, das Dorf zu retten. Narada warnt die Einwohner, sammelt dann seine Familie um sich und führt sie in die dunkle Nacht. Er hofft, auf höher gelegenem Gelände in Sicherheit zu kommen. Seine Frau und die beiden Söhne klammern sich an seine Taille und kämpfen gegen die tosenden Winde an. Die kleine Tochter hält er in seinen Armen fest an die Brust gedrückt.

 

Aber die Winde blasen so stark, und das Wasser ist so hochgestiegen, dass Narada stolpert als er gegen die Regenwand ankämpft. Die wütenden Elemente reißen einen seiner Söhne mit sich fort. Er streckt den Arm nach dem Kind aus und verliert dabei den zweiten Sohn. Einen Augenblick später entreißt ihm ein mächtiger Windstoß seine kleine Tochter, und dann wird auch seine geliebte Frau in die tosende Dunkelheit fortgetragen.

 

Narada bricht in hilfloses Wehklagen aus und streckt die Arme gen Himmel. Aber seine Rufe gehen in einer haushohen Welle unter, die aus den Tiefen dieser grässlichen Nacht aufsteigt und ihn bewusstlos zu Boden wirft. Sein Körper wird von dem gewaltigen Wasser hin und her geworfen und kopfüber in den Fluss gerissen.

 

Es vergehen viele Stunden, vielleicht sogar Tage. Langsam, schmerzhaft kommt Narda wieder zu sich und muss feststellen, dass er auf eine Sandbank weit flussabwärts gespült worden ist, fast nackt und halb tot. Es ist Tag und der Sturm hat sich verzogen. Aber es findet sich nirgendwo ein Zeichen seiner Familie noch irgendeines anderen lebendigen Geschöpfes.

 

Narada liegt eine Weile mit dem Gesicht auf dem harten Sand, voller Schmerz und einsam, fast verrückt vor Kummer und Verlassenheit. Der Fluss trägt Strandgut mit sich, und in der Luft liegt der Geruch des Todes. Nun ist alles von ihm genommen; nichts ist geblieben; alles, was lieb und teuer war, ist in dem wirbelnden Wasser verschwunden. Es scheint nicht viel anders zu tun zu geben als zu schluchzen.

 

Da hört Narada plötzlich eine Stimme. Sie lässt ihm das Blut in den Adern gefrieren „Kind“, sagt sie, „Kind, wo ist mein Becher kühlen Wassers?“ Narada dreht sich um und sieht Gott neben sich stehen. Der Fluss ist verschwunden und sie sind wieder allein inmitten einer endlosen Wüste. „Wo ist mein Wasser?“ fragt Gott wieder. „Ich warte nun schon fast ganze fünf Minuten.“

 

Narada wirft sich dem Herrn zu Füßen und bittet ihn um Vergebung. „Ich habe es vergessen“, ruft er immer und immer wieder. „Ich habe es vergessen, Großer Gott, vergib mir!“. Gott lächelt und sagt: „Nun, Narada, verstehst du nun das Geheimnis hinter den Erscheinungen dieser Welt?“

 

In meinem ganzen Leben habe ich so oft Gott erlebt, zweimal sogar ganz ganz nahe. Das tat und tut auch heute noch in Erinnerung an diese Geschehnisse unbeschreiblich gut.

 

(Nach einer alten Hindu-Schrift aus dem Buch "Lasst die Kinderseele wachsen" von David Carroll, Verlag Hermann Bauer erschienen ist, 4. Auflage1995, S. 9 ff.)