Sterbebegleitung -
Lebensbegleitung im tiefsten Sinn
Nebenstehende Zeilen zeigen, dass die Auseinandersetzung mit unserer Endlichkeit, unserem Sterben, dem Sterben naher Personen und das „Trauern“ einen notwendigen Vorgang im Leben eines jeden Menschen darstellt. Weltweite Untersuchungen zeigen, dass verdrängte, vermiedene und unausgedrückte Trauer und die Nichtauseinandersetzung mit dem Sterben eine wichtige Rolle bei der Entstehung, beim Ausbruch und Verlauf von seelischen und körperlichen Krankheiten spielen können. Körperschmerzen, Atembeschwerden, Herz-, Verdauungs- und Appetitbeschwerden, Schlafstörungen, geschwächte Immunabwehr, Depression, Hoffnungs- und Antriebslosigkeit, Zorn, Hyperaktivität, Resignation, Angstgefühle, Alkohol- und Tablettenmissbrauch u.v.a.m. sind häufig „Geschwister“ von unterlassener Auseinandersetzung mit diesen Fragen. Dabei ist Trauer nicht nur (da aber besonders) auf „Verlusterfahrungen durch Tod“ zu beschränken.
Der Verlust von nahen Menschen, von Heimat, Arbeit, Lebenszielen, beim Älterwerden und auch beim Abschied von Illusionen, bei Trennung und Scheidung, in unheilbaren Krankheiten u.v.a.m. hinterlassen Eindrücke und Gefühle in unserem Körper und unserer Seele, die im „Untergrund“ unbewusst und oft lebensbehindernd weiterwirken, wenn an ihnen nicht gearbeitet wird.
Eine Karte begleitet mich schon seit vielen Jahren.
Sie trägt die Überschrift:
„Ratschläge eines Sterbenden für seinen Begleiter“
Die „Ratschläge eines Sterbenden für seinen Begleiter“ sprachen auch davon, dass man durch die Auseinandersetzung mit dem Sterben Gewinn davontragen kann: „ ... dein Leben wird schöner, reifer, tiefer, inniger, freudiger und bewusster sein, als es zuvor war ...“ Der Philosoph, Psychiater und Psychotherapeut Viktor E. Frankl, der selbst zweieinhalb Jahre die Hölle von vier Konzentrationslagern durchleiden musste, sagte einmal im Blick auf den leidenden Menschen: „Selbstverwirklichung vollziehe sich dadurch, dass ich das Tiefste aus mir selbst herausbringe ... Denn da werde ich erst ich selbst, da bringe ich das Beste aus mir heraus. Dann zeigt sich: Ich bin noch im Leiden ich selbst gewesen, ich selbst geworden.“
Unser Leben hat Aufgabencharakter! Es fordert uns immer wieder neu heraus, Aufgaben und Taten zu erkennen und zu übernehmen. Und es fordert uns heraus, insgesamt einen offenen und bewussten Umgang mit dem uns umgebenden wertvollen Leben – bis zuletzt – zu pflegen. Alles wesentliche Leben heißt: Antwort geben. Ein Leben ist so viel wert, als es Antwort gibt. Denn wir Menschen sind immerfort gefragt. Viele von Ihnen haben sich vielleicht schon einmal gefragt, wie eine Auseinandersetzung mit Schwer- und Schwerstkranken aussehen soll, wie man sich verhalten soll. Die weltweit bekannte Sterbeforscherin Elisabeth Kübler-Ross erwähnt in ihrem Buch „Interviews mit Sterbenden“ folgende Geschichte: „Ich erinnere mich an den Tod eines Bauern in meiner Kindheit. Er fiel vom Baum und wurde schwerst verletzt. Seine einzige Bitte, daheim sterben zu dürfen, erfüllte man sofort. Nacheinander rief er jede Tochter ans Bett, um ein paar Minuten mit ihr allein zu sprechen. Trotz großer Schmerzen ordnete er ruhig seine Angelegenheiten und verfügte über das Hab und Gut, das zu Lebzeiten seiner Witwe nicht aufgeteilt werden sollte; er bat jedes Kind, die Arbeiten und Pflichten auf sich zu nehmen, die er bis zu seinem Unfall selbst geleistet hatte. Seine Freunde wurden gebeten, ihn noch einmal zu besuchen. Als der Bauer gestorben war, blieb er bis zur Beerdigung in dem Haus, das er selbst gebaut und sehr geliebt hatte, blieb unter Freunden und Nachbarn ...“
Die Realität des Sterbens und des Todes sieht leider aber oft ganz anders aus. Falls der Sterbende nicht an irgendwelchen Infusionen und Maschinen „hängt“, in der Intensivstation oder in der Endphase sogar manchmal allein und isoliert in irgendeinem abgelegenen Zimmer sich befindet, falls er also vielleicht sogar zu Hause sein kann, soll er von Unruhe und Sorge geschützt werden. Die Verwandten werden fern gehalten, es wird oft darüber diskutiert, ob er die Wahrheit über seinen Zustand erfahren soll; irgendwie wird er oft mit seinem Sterben allein gelassen. Im Folgenden möchte ich deshalb der Frage nachgehen, was Sterbende eigentlich brauchen. Dabei ist es grundlegend und entscheidend wichtig, von den verschiedenen Phasen und Reaktionsweisen zu wissen, die das Erleben von Verlust, Sterben und Trauer mit sich bringen.
E. Kübler-Ross nennt die klassischen fünf Phasen:
Diese genannten Phasen wurden zur Grundlage vieler therapeutischer Zugangswege zu den genannten existentiellen Themen.
Die sechste Phase: Hoffnung
Ich möchte diese fünf bekannten Phasen noch ergänzen durch eine sechste, die Phase der Hoffnung. Wie das Leid, so ist auch die Hoffnung eine allgemein menschliche Erfahrung: In unseren schwersten Stunden ist sie da. Hoffnung hält uns am Leben, wenn alles andere düster aussieht. Allerdings muss man unterscheiden. Hoffnung ist nicht dasselbe wie Wunschdenken. Wunschdenken ist meistens eine Form des Nicht-Wahrhaben-Wollens („Es wird schon wieder werden“) oder des Verhandelns („Wenn ich nur ernsthaft genug bete, wird sie nicht sterben“). Letztlich führt Wunschdenken immer zu einer Enttäuschung, weil es die Realität ausblendet. Hoffnung dagegen ist realistisch. Sie erlaubt uns nicht, die Situation zu beschönigen oder so zu tun, als ob wir die Macht hätten, das Unvermeidliche abzuwenden – durch Willenskraft oder gute Vorsätze.
Statt dessen erlaubt uns die Hoffnung den Blick über den Schmerz, über den Verlust, über die Verletzung hinaus in eine tiefere Wirklichkeit. Was ist mit dieser tieferen Wirklichkeit gemeint? Es ist die Welt und Wirklichkeit Gottes. Aus der Perspektive des ewigen Lebens, von dem die Bibel spricht, verliert die Sterblichkeit des Menschen ihre niederschmetternde Macht. Hoffnung entsteht wenn wir die Verheißung der Ewigkeit in unser Hier und Jetzt hineinnehmen. Hoffnung verlässt sich auf die Zusage, dass wir eines Tages die Gegenwart Gottes sehen und spüren werden, die wir gegenwärtig nur dunkel erahnen. Hoffnung sieht die zukünftige Wirklichkeit mit den Augen des Glaubens und deutet die Gegenwart in ihrem Licht. Hier gilt es für den Betreuer, die Hoffnungs- und Glaubensvorstellungen des Sterbenden, wenn er sie noch äußern kann, zu respektieren. Er hat kein Recht, ihm seinen Glauben und seine Vorstellungen aufzuoktroyieren. Wenn sie aber mit denen des Sterbenden übereinstimmen, dann ist er dazu eingeladen, ihn darin zu bestärken, ja sogar mit ihm zu beten.
Christliche Hoffnung in der Hospizarbeit
Als Christen dürfen wir aber auch bewusst und gläubig-vertrauend über das rein innerweltliche „Recht auf Hoffnung“, auf „erlaubte Hoffnung“ hinausblicken und unsere „Hoffnung über den Tod hinaus“
– wenn es daran ist – phantasie- und liebevoll einbringen. In der Begleitung von Sterbenden sind wir intensiv konfrontiert mit einer Hoffnung, die trägt, einer Hoffnung, die lebenspraktisch und
lebensdienlich ist. Das Sterben ist eigentlich anzusehen wie eine Geburt: Wir streifen die Hülle unser vorherigen Existenz ab, sie wird nicht mehr gebraucht und zerfällt in der Erde oder wird
verbrannt; unsere „Geistseele“ aber bricht hindurch in einen weiten Raum bei Gott, in dem Wärme, Nähe und Anschauung herrschen, wenn wir uns dem Licht zuwenden können – der uns frieren und
verloren sein lässt, wenn wir darauf beharren, in ewiger Abgewandtheit von Gott zu existieren. Himmel und Hölle – das bereiten wir uns selbst schon hier auf Erden und erst recht im Jenseits durch
unsere Einstellung zu Gott. Aber wer weiß: Vielleicht akzeptiert Gott im Himmel nicht unsere ewige Abwehrhaltung, sondern überwindet uns mit seiner alles verwandelnden Liebe.
Artikel erschienen im Kneipp-Journal, November 2014, 123. Jahrgang