Dankbarkeit – Interview

Sagen wir noch Danke?


Das Fest Erntedank steht vor der Tür. An diesem oder an einem der kommenden Sonntage wird es in den Gemeinden unserer Diözese gefeiert. Es lädt nicht nur dazu ein, für die hart erarbeitete Ernte des vergangenen Jahres oder für die Früchte des eigenen Lebens zu danken. Das Fest gibt vielmehr auch Anlass, auf unsere heutige Kultur der Dankbarkeit zu schauen. Sind wir überhaupt noch dankbar, oder nehmen wir alles selbstverständlich? Wollen wir uns – einem Schöpfer – verdanken? Schon die römischen Philosophen Cicero und Seneca sahen in der Dankbarkeit eine Haltung, die zum Wesen des Menschen gehört. Ohne Dankbarkeit, so meinten sie, ist der Mensch kein Mensch. Denn danken kommt tatsächlich von denken, bestätigt Franiskanerpater Christoph Kreitmeir (Foto). Im folgenden Interview und anschließender Serie erläutert er, warum nachdenken und sich erinnern so wichtig sind für eine Haltung der Dankbarkeit und wie man diese einüben kann.

Pater Christoph, Kindern bringt man normalerweise bei, »danke« zu sagen, wenn sie etwas bekommen. Ist Dankbarkeit nur eine Frage der Höflichkeit oder steckt mehr dahinter?

Es ist auf jeden Fall mehr. In einer Zeit, in der immer mehr Verrohung stattfindet und jeder sein Eigenes durchzieht, wird die alte Tugend der Dankbarkeit wiederentdeckt. Ich hoffe, dass junge Eltern ihren Kindern das Dankesagen noch beibringen, weil ein Kind verstehen soll, dass nicht alles selbstverständlich ist, sondern vieles Geschenk ist, das man umsonst bekommt. Das ist nicht nur eine Frage der Höflichkeit, sondern dahinter steckt eine Grundeinstellung: Du verdankst dein Leben und vieles in deinem Leben anderen.

 

In unserer Wohlstandsgesellschaft wird trotzdem vieles für selbstverständlich genommen, wodurch auch das Anspruchsdenken wächst. Wie wichtig ist es da ein Fest wie Erntedank zu feiern?

Erntedank ist höchst aktuell, auch wenn es in der großenteils atheistischen Bevölkerung als altbacken daherkommen mag. Vieles, was wir heute haben und in den Einkaufstempeln erwerben können, ist nicht selbstverständlich, auch wenn es so scheint. Von den Flüchtlingen bekommen wir den Spiegel vorgehalten, denn sie haben meist nichts mehr, außer ihren Pass und ihr Handy, das ihre Nabelschnur in die Heimat ist und untereinander. Dann merken wir schnell: Uns geht es hier sehr sehr gut. Auffällig ist in diesem Zusammenhang, dass die großen Hilfen für Flüchtlinge nicht von der Politik oder der Oberschicht kommen, sondern von Ehrenamtlichen aus der Mittelschicht geleistet werden. Sie handeln meist aus Dankbarkeit ihrer Lebenssituation gegenüber.

 

Das heißt, der dankbare Mensch unterscheidet sich merklich von dem, der diese Haltung nicht besitzt?

Viele Menschen kaufen und kaufen und sind immer noch unzufrieden. Der dankbare Mensch unterscheidet sich vom undankbaren darin, dass er zufrieden ist und weiterdenkt. Das Wort danken kommt von denken. Wer dankt, hat weitergedacht.

 

... weil er überlegt: Was brauche ich wirklich und was kann ich lassen?

Genau! Ich bin dankbar für das, was es alles gibt, muss aber nicht alles haben und nutzen. Das ist die Kunst der Bescheidenheit - eine innere Haltung, die zur Freiheit führt. Dankbarkeit ist ein Zeichen innerer Freiheit.

 

Menschen unterliegen heute aber oft einem Machbarkeitswahn. Warum sollten sie da noch dankbar sein? Wollen sie sich und ihr Leben überhaupt jemandem verdanken?

Ich bin jetzt 54 Jahre alt. Ich verdanke mich meinen Eltern und habe bis heute dieses Grundgefühl. Ich bin meiner Mutter unendlich dankbar, denn bei ihr lag 1962 Contergan auf dem Nachtkästchen. Trotz großer Schmerzen hat sie es nicht genommen und deshalb bin ich nicht behindert. Mich zeichnet also diese Urdankbarkeit meinen Eltern gegenüber aus, aber viele Menschen denken und spüren da anders oder empfinden ihr Leben sogar als eine Last, weil niemand sie gefragt hat, ob sie überhaupt leben wollen. Sie gehen dann entsprechend zerknirscht und bitter durchs Leben, während der Dankbare eine grundsätzlich positive Einstellung zeigt. Menschen, die meinen, alles  ist machbar – und das sind heute sehr viele – werden oft durch die Pädagogik des Lebens beziehungsweise die Pädagogik Gottes eines Besseren belehrt. Wenn sie sich belehren lassen…

 

Führt Dankbarkeit also unweigerlich zur Frage nach Gott? Ist der dankbare Mensch von Natur aus religiös?

Ich muss aufpassen, dass ich nicht zu schnell sage: Ja! Denn ich bin ja als Ordensmann ein ›homo religiosus‹, ein religiöser Mensch. Wenn jemand religiös erzogen ist, dann wird diese grundsätzliche Dankbarkeit schnell zum Glauben und zur Dankbarkeit Gott gegenüber führen. Es ist aber nicht selbstverständlich. Wir haben 23 Millionen Atheisten in unserem Land, das heißt, wir haben es in unserer Gesellschaft mit Menschen zu tun, die diese Offenheit auf Gott hin nicht (mehr) haben. Entsprechend gibt es das Phänomen des zunehmenden Alltagsatheismus, dass Menschen sagen: Wenn ich überhaupt dankbar bin, dann dem Schicksal oder dem glücklichen Zufall.

 

Da gibt es ja auch schwere Schicksale, die Menschen zu tragen haben, etwa auf Grund einer Krankheit oder Behinderung. Wie ist es dann trotzdem möglich, dankbar zu sein statt zu hadern?

Da möchte ich Viktor E. Frankl, den großen Psychologen und Psychiater aus Wien ins Spiel bringen, den ich noch persönlich kennenlernen durfte. Ihm glaube ich deshalb, weil er in vier Konzentrationslagern die Hölle auf Erden erlebt und seine Familie verloren hatte. Trotzdem sagt er ganz klar: Es gibt einen Sinn in jeder Situation des Lebens, auch in schwerstem Leid. Er beantwortet diese Sinnfrage aber nicht religiös, sondern philosophisch-psychologisch. Das hat mir sehr geholfen, denn ich arbeite in der Beratung mit vielen Menschen, die nicht gläubig sind. Durch die Methode von Frankls Logotherapie kann ich mich dann trotzdem mit ihnen auf die Suche machen nach etwas, wofür man dankbar sein kann und so ihre Einstellung verändern.

 

Aber wie findet man da hin?

Einfach ausgedrückt: Es kommt darauf an, mit wem wir uns vergleichen. Ist es jemand, der reich ist und alles hat, werde ich unzufrieden. Ist es jemand, der vielleicht behindert ist und kaum Chancen im Leben hatte, bin ich zufriedener. Ich kann auch mit einem schweren Schicksal Gründe finden, trotzdem dankbar zu werden.

 

Wie kann man diese Dankbarkeit im täglichen Leben einüben? Hilft da der Blick auf die sogenannten kleinen Dinge und auf das Gelungene?

Dankbarkeit kann man tatsächlich lernen. Hier muss ich wieder bei meinem Denken anfangen. Als religiöser Mensch schließe ich meinen Tageslauf ab mit einem Abendgebet und zwar mit einem Rückblick auf den Tag. In der Reflexion werde ich feststellen, dass es vieles gibt, wofür ich dankbar sein kann. Eine Hilfe dabei ist, ein Dankbarkeitstagebuch zu führen, in dem ich festhalte, was schiefgelaufen ist und was gut war. Unterm Strich werde ich feststellen – und das ist sogar statistisch erwiesen – , dass es mehr gibt, für das ich Dankeschön sagen kann. Wer dann immer noch unzufrieden oder undankbar ist, der ist denkfaul.

 

Wie lernt man noch den Perspektivwechsel?

Lernen kann man Dankbarkeit auch durch Mitgefühl. Wenn ich jemanden sehe, dem es schlechter geht und ihm zur Seite stehe, wird es eine riesige Rückwirkung auf mich haben, weil ich dann aufmerksamer und achtsamer für mein eigenes Leben werde. Und dann wächst eine innere geistige Kraft in mir, die mit Resilienz, seelischer Widerstandskraft, zu tun hat und mit Hoffnung, der »Trotzdemkraft« des Geistes. Beides brauchen wir, um belastbar zu sein und nicht etwa depressiv zu werden.

 

Eine dankbare Haltung ist also eine Ressource, auf die ich aufbauen kann. Wirkt sie sich auch auf Beziehungen aus?

Es gibt eine uralte Regel, die unser Religionsstifter JESUS, aber auch viele andere formuliert haben: Wer gibt, der empfängt. Mit einem dankbaren Menschen bin ich lieber zusammen als mit einem ewigen Nörgler. Auch im Sinne der Selbsterhaltung ist es daher sinnvoll, die Dankbarkeit einzuüben. Ich werde weicher, fröhlicher, umgänglicher. Miesepeter werden oft allein gelassen, vereinsamen. Niemand umgibt sich gern mit undankbaren Menschen. Im Alltagsgespräch merke ich sehr schnell, ob jemand nur sich selbst und sein eigenes Weh und Ach kennt. Eine Wirkung der Dankbarkeit ist: Ich kreise nicht länger um mich selbst, werde zufriedener, auch tapferer. Da zeigen sich Grundtugenden.

 

Sie hatten schon die Dankbarkeit gegenüber Ihren Eltern angesprochen. Wofür sind Sie noch besonders dankbar?

Ich bin unendlich dankbar, dass wir über 70 Jahre Frieden haben in diesem Land. Ich gehöre zu der privilegierten Generation, die keinen Krieg erlebt hat. Um uns herum bricht gerade vieles zusammen und wir dürfen hier in Frieden leben. Das ist freilich auch eine Verpflichtung. Ich danke auch für die religiöse Erziehung durch meine Eltern. Je älter ich werde, desto mehr schätze ich das. Sie haben mir Grundlagen gegeben, einen Proviant für mein Leben nach dem Motto: Mit einer glücklichen Kindheit, lässt sich ein halbes Leben in der kalten Welt aushalten. Das prägt mich und gibt mir Kraft bis heute. Ich bin dankbar, dass ich Viktor. E. Frankl begegnen durfte, dem großen Sinntherapeuten, der mir für vieles die Augen geöffnet hat. Und ich bin dankbar, dass ich trotz mancher Hindernisse glauben kann. Das ist einer der größten Schätze.

 

Nicht zuletzt bedeutet ja auch Eucharistie Danksagung, was vielen Menschen gar nicht so bewusst ist...

Das ist richtig, griechisch »eucharistein« heißt: Dank sagen. Es bedeutet eine permanente Erinnerung an Jesus Christus, den wir durch das eucharistische Hochgebet, durch bestimmte überlieferte Worte, immer wieder präsent werden lassen. Das ist nicht etwas Magisches. Wir Katholiken glauben: Er ist wirklich da! Das heißt: Ich darf aus dieser Erinnerung an ihn leben, ich bin nicht allein.

 

Und sich erinnern führt ja auch wiederum zu Dankbarkeit…

Ja, so entsteht der Dankbarkeitskreis gegen den Teufelskreis. Das ist auch psychologisch interessant: Sich erinnern bringt nämlich auch Kraft. Die Eucharistie bringt uns Jesus nahe in die heutige Zeit. Wir müssen nicht mehr allein durchs Leben gehen. Dafür sagen wir immer wieder: Danke! 

 

Artikel: P. Christoph Kreitmeir; Foto: Andy Welz

Katholisches Sonntagsblatt für die Diözese Rottenburg/Stuttgart Nr. 39/2016, S. 10-13