Sehnsucht (nach) Spiritualität

Spiritualität des Ordenslebens – Erfahrungsräume anbieten


Artikel erschienen im Bruder Jordans Weg, Ausgabe 2 - 2015

Franz von Assisi: ein Sinn- und Gottsucher
Franz von Assisi: ein Sinn- und Gottsucher © www.assisi.de / S. Diller

In Deutschland leben wir Gott sei Dank seit vielen Jahrzehnten in sicheren Verhältnissen: Kein Krieg, keine größeren sozialen Unruhen, eine blühende Wirtschaft, eine funktionierende Demokratie. Religiös aber nimmt das Leben, das in großen Bereichen vom christlichen Wertefundament geprägt ist, stetig ab. UND DOCH ... wächst in vielen, in sehr vielen Herzen eine „Sehnsucht nach Mehr“, die über Materialismus, Funktionalismus und Wohlstand hinausgeht. Diese Sehnsucht nach Mehr, nach Sinn und letztlich nach Gott hat einen modernen Namen bekommen: Spiritualität.

 

Sehnsucht nach Mehr

 

Der heilige Franz von Assisi hatte in seinem Leben eigentlich alles und doch wuchsen in seinem Inneren eine „Sehnsucht nach Mehr“, eine Sehnsucht nach Gerechtigkeit, nach echtem Leben, nach Liebe und Hingabe und vor allem eine Sehnsucht nach Gott. Wir haben heutzutage zumindest in den reichen Industrieländern auch alles, was unserem Leben Halt und Sicherheit gibt, und doch wächst eine neue Sehnsucht nach Spiritualität in den Herzen der Menschen, die Verlorenes und Verschüttetes wieder lebendig werden lassen möchte. SEHNSUCHT und SPIRITUALITÄT sind wichtige Grundmotive menschlichen Suchens und Strebens, die uns zu mehr Lebendigkeit und innerem Frieden einladen wollen.

Sehnsucht nach Spiritualität

 

SEHNSUCHT treibt uns an wie eine Schwungfeder, sie zieht uns wie ein Magnet zu erfüllender Existenz. Wie ein roter Faden im Leben will sie uns zwischen Misslingen und Erfolg, zwischen Scheitern und Gelingen am Leben halten und zu Lebenstiefe, Sinn und letztlich zu GOTT führen. Der oft auch sehr spirituelle Dichter Rainer Maria Rilke schreibt: „Wenn die Sehnsucht größer als die Angst ist, wird Mut geboren. Ohne Sehnsucht machen wir uns nicht auf den Weg.“ Und der in Europa meistgelesen christlich-spirituelle Autor Pater Anselm Grün OSB sieht in der Sehnsucht neben Glauben, Hoffnung und Liebe die wichtigste spirituelle Kraft in uns Menschen.


In unserer Gesellschaft ist es nur nicht mehr selbstverständlich, dass die spirituelle Suche im Rahmen des Christlichen stattfindet. Esoterik, Philosophie, Psychobewegungen, Lebenshilfe und Persönlichkeitscoaching, neue spirituelle Bewegungen und Vermischungen von religiösen Inhalten verschiedener Religionen bis hin zum wachsenden und bewussten Atheismus – all diese (und noch viele mehr) sind „Mitanbieter“ auf dem religiös-spirituellen Sinnmarkt geworden. Was hier auffallend und für uns Christen wichtig sein könnte: Unsere Zeitgenossen suchen keine theoretischen und kirchlich vorgegebenen Antworten auf ihre drängende Sinn- und Gottsuche, sondern Antworten, die direkt aus dem Leben kommen. Menschen suchen Begegnungen und Räume, wo sie Lebens- und Glaubenserfahrungen machen können.

 

Ordensleben – Erfahrungsraum von Sinn- und Gottsuche

 

Seit gut 30 Jahren bin ich Franziskaner. Ich durfte wie alle Menschen Höhen und Tiefen erfahren, aber ich spüre auch heute noch, ja sogar verstärkt, dass mich Sehnsucht und Spiritualität umtreiben. Das Beispiel des heiligen Franz von Assisi ist für mich lebendig geblieben. Viel weniger das, was er gesagt hat, sondern mehr, was er vorgelebt hat.


Und genau darin liegt für mich die Chance unseres Ordenslebens. So leben, dass Suchende nach deiner Schwungfeder und nach den Motiven deines Tuns fragen und sich davon vielleicht anstecken lassen.

 

Viele Ordensgemeinschaften antworten meiner Meinung nach richtig auf die Sehnsucht nach Spiritualität heutiger Menschen, wenn sie durch gezielte Angebote der Lebenshilfe, der Lebensorientierung und Kreativität, der Stille, der Kontemplation und des Einübens von Körperhaltungen und Gebetsübungen ERFAHRUNGSRÄUME bieten, die heutiges Leben und Glauben lebendiger werden lassen. Echte Spiritualität lässt ganz werden: „Je mehr ich Gott begegne, desto mehr werde ich auch mit mir selbst konfrontiert. Und umgekehrt: Je mehr ich mich selbst kennenlerne, desto mehr spüre ich, dass in mir eine tiefe Gottessehnsucht ist, die gestillt werden will“ (Anselm Grün).

 

Franz von Assisi, mir selbst und vielen Sinn- und Gottsuchern von heute geht es um ein inneres Berührtwerden durch Gott und Gottes Zeichen, in denen SEINE Nähe zu uns spür- und sichtbar wird. Es geht nicht primär um theoretisch-theologisches Wissen oder rituelles Absolvieren religiöser Übungen, es geht vielmehr um ein existentielles Ergriffensein durch Gotteserkenntnis und Gotteserfahrung.

 

„Wenn es dir gut tut, dann komm ...“, sagte der heilige Franziskus zu Bruder Leo, als es diesem einmal nicht gut ging. Und er kam, er erlebte und er erfuhr Franziskus und das tat ihm gut.

 

Mir tut es auch weh, wenn in heutiger Zeit viele Ordensgemeinschaften überaltern und „absterben“. Wenn sie aber suchenden Menschen Erfahrungsräume der Selbst- und Gottesbegegnung geben, dann ist mir nicht bang um die Zukunft der Orden in Deutschland. Wir werden weniger werden, wir werden aber Leben ausstrahlen, wenn wir selbst innerlich lebendig bleiben und uns von der Sehnsucht nach Gott treiben und anziehen lassen.

 

 

Christoph Kreitmeir ofm, Vierzehnheiligen


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