"Grundmotor geistlichen Lebens"

Franziskaner Christoph Kreitmeir über gestresste Seelsorger und Spiritualität im Interview mit katholisch.de


Katholisch.de: Vor wenigen Wochen sorgte eine Studie zur psychischen Belastung von Seelsorgern für Aufsehen. Ein Ergebnis der Untersuchung: Die eigene Spiritualität kann Seelsorgern helfen, Stress und Unbehagen einzudämmen. Im Interview äußert sich dazu der Franziskanerpater und Lebensberater Christoph Kreitmeir.

 

Frage: Herr Kreitmeir, vor einigen Wochen wurde eine Studie veröffentlicht, die den Stresslevel bei Seelsorgern untersucht hat. Auch Sie wurden dafür befragt. Haben Sie sich in den Ergebnissen wiedergefunden?

 

Kreitmeir: Ja, ich habe mich wiedergefunden und bin doch etwas darüber überrascht, dass die Spiritualität bei Seelsorgern so wichtig ist, dass sie Stress und Unbehagen eindämmen kann. Ich hatte es vermutet, jetzt wurde es aber nachgewiesen.

 

Frage: Ein zentrales Ergebnis war, dass nicht äußere Faktoren wie beispielsweise die Pfarreigröße die Hauptursache für psychosomatische Belastungen sind, sondern die Art und Weise, wie Seelsorger mit dem Stress umgehen. Haben Sie als Lebensberater Tipps für ihre gestressten Kollegen?

 

Kreitmeir: Der Wiener Psychiater Viktor E. Frankl verwendete gerne etwas abgeändert eine Aussage Friedrich Nietzsches: "Der Mensch erträgt fast jedes wie, wenn er weiß wofür." Genau darum geht es. Viele Menschen - auch Seelsorger - empfinden sich heute immer mehr als ein Rädchen im Getriebe und fühlen sich dadurch auch immer häufiger ausgebrannt. Wenn ich jedoch weiß, wofür oder für wen ich etwas tue, bin ich viel belastbarer. Dies ist eine wichtige Grundlage all unseres Tuns. Eine weitere wichtige Erkenntnis ist, dass äußere Ordnung innere Ordnung schafft. Dabei können Monotasking - also eins nach dem anderen tun und das konzentriert -, Entschleunigung und ausreichend Schlaf helfen; aber auch Bewegung, Musik und Gesang, Kunst, Lesen, Humor und Lachen. Vorbeugend können zudem das Beten, Stille und Meditation, aber auch der Einsatz für andere und Freundschaften wirken.

 

Frage: Stichwort Freundschaft. Wer genügend soziale Beziehungen pflegt, dem geht es auch gesundheitlich besser, sagt die Studie. Sind hier Ordensleute, die wie Sie in einer Gemeinschaft leben, im Vorteil? Welche Optionen sehen sie für Pfarrer?

 

Kreitmeir: Das Gemeinschaftsleben im Orden kann eine Hilfe sein, muss es aber nicht. Für beide Lebensentwürfe gilt als wirklich hilfreich das Eingebundensein in tragende Freundschaftsbeziehungen zu Paaren, Männern und Frauen, ein "freier Tag", das Pflegen von Hobbies, eine Offenheit für die schönen Dinge des Lebens als Ausgleich zu den vielen Problemen, mit denen wir in unserem Beruf konfrontiert sind. Und: das Finden und Leben einer persönlichen Spiritualität, die über die "Rolle des Geistlichen" hinausgeht. Frankl definierte das Gebet so: "Gott ist der Partner meiner intimsten Selbstgespräche." Wer Gott so kennenlernt, der ist also nie allein.

Frage: Laut Studie ist für viele Seelsorger die eigene Spiritualität mit der wichtigste Motivator für die Arbeit. Ihr neuestes Buch heißt "Sehnsucht Spiritualität". Was hat es mit dieser Sehnsucht auf sich?


Kreitmeir: Die Spiritualität ist wirklich der Grundmotor geistlichen Lebens, eigentlich allen Lebens. Wer schon einmal in Afrika, Brasilien oder besonders in Indien war, weiß, wie lebendig Spiritualität im Alltag vorkommt. Sie gehört zum Leben wie Essen und Trinken. Leider ist das in unseren Breitengraden kaum so - Spiritualität wird ins Private abgeschoben, wenn sie überhaupt vorkommt. Wenn sie aber vor sich hindümpelt oder "gestorben" ist, dann hinterlässt sie eine Lücke, ein Vakuum, ein schwarzes Loch in der Seele. Und daraus erwachsen neben allen möglichen Formen des Aberglaubens psychosomatische Gefahren. Moderne Psychologie und Psychotherapie sieht neben der körperlichen, der psychisch-geistigen und der sozialen auch die spirituell-sinnstiftende Lebensdimension als wichtig an. Das war nicht immer so und ändert sich - Gott, sei Dank - seit einiger Zeit. Kurz und gut: Spiritualität gehört zu einem gesunden Eingebundensein in ein größeres Ganzes, das gläubige Menschen Gott nennen. Mit Spiritualität im Gepäck kommt man weiter und das Leben wird als Ganzes belastungsfähiger und reicher.


Frage: Unterscheiden sich Geistliche und "Laien" in ihrer Sehnsucht oder ihrer Spiritualität?


Kreitmeir: Meiner Erfahrung nach eigentlich nicht. Ich habe von sogenannte "Laien" schon viel lernen dürfen für mein eigenes Glaubensleben. "Laien" sind manchmal auch geistlicher als "Geistliche". Das gibt es natürlich auch anders herum. Geistliche und Seelsorger sollten wirklich wieder neu die Namen ihrer Profession ernst nehmen: geistlich leben und sich um andere sorgen. Die Sehnsucht bestimmt das Leben aller Menschen - egal welchen Berufes. Es ist eines unserer Grundmotive. Der in Europa meistgelesene christlich-spirituelle Autor, Pater Anselm Grün, sieht in der Sehnsucht neben Glaube, Hoffnung und Liebe die wichtigste spirituelle Kraft in uns Menschen.

 

Frage: Kann Spiritualität vor Burn-out oder Depressionen schützen?

 

Kreitmeir: Ein klares Ja als Antwort. Echte und gesunde Spiritualität kann Halt, Geborgenheit, Frieden mit sich selbst, anderen und Gott geben. Sie gibt nachweisbar seelisch stabilisierende Kraft, verringert Angst, Druck und das Gefühl, ein Hamster im Rad zu sein oder sinnlos dahinzuvegetieren. Sie stärkt das Immunsystem und verstärkt das Gefühl einer "Geborgenheit im Leben" und eines "Getragenseins von Gott". Sie ist kein Opium wie Karl Marx behauptet, keine Weltflucht und kein Rückzug in die Innerlichkeit, sondern gibt Kraft zum Engagement im Hier und Jetzt.

 

Frage: Nun sind auch Sakramente wie die Buße ein Angebot, um Gott und sich selbst näher zu kommen. Die Studie hat jedoch ergeben, dass die Seelsorger kaum noch beichten. Haben Sie eine Erklärung dafür?

 

Kreitmeir: Das war sogar für mich erstaunlich und neu, aber Seelsorger kommen aus der Gesellschaft und spiegeln die allgemeinen Entwicklungen wider. Die Beichte ist in unseren Breiten als wertvolles Instrument einer inneren und äußeren Aussöhnung kaum noch geschätzt. Warum? Wieso? Darüber gibt es viele Meinungen und Untersuchungen. Ich kann jedem nur wünschen, dass er einmal die Erfahrung einer echten Befreiung durch ein Beichtgespräch machen kann. Auf jeden Fall ist die Beichte dringend reformbedürftig - dies zeigt auch diese Untersuchung erneut.

 

Frage: Macht die Kirche genügend Angebote für die moderne, gestresste Gesellschaft?

 

Kreitmeir: Ich denke schon - es könnten aber sicherlich noch mehr werden. Was alles landauf, landab von der katholischen und auch der evangelischen Kirche in Bildungshäusern und in Klöstern angeboten wird, kann sich wirklich sehen lassen. Die Angebote sind oft qualitativ hochwertig und recht günstig. Aber irgendwie sind sie bei den Menschen zu wenig bekannt. Auch hier gilt, dass wir mehr von unseren guten Angeboten durch gezielte Werbung reden sollten.

 

Frage: Was kann die Kirche außer gezielter Werbung noch tun? Muss sie spiritueller werden?

 

Kreitmeir: Christen, Priester und Bischöfe aus Entwicklungsländern bewundern immer wieder die hohe Effektivität der deutschen Kirchen, vermissen aber nicht selten Leichtigkeit, Freude und Gottvertrauen bei uns. Ich gehöre zum Orden der Franziskaner, einem Weltorden. Ich durfte und darf immer wieder Mitbrüder aus anderen Ländern kennen lernen, die mit viel weniger an Materiellem viel glücklicher und auch spiritueller sind. Ja, wir müssen in Deutschland wieder spiritueller werden! Das kann man nicht verordnen, das muss gefördert werden. Weniger Verwaltung - mehr Gotteserfahrung und Leichtigkeit. Franziskus, der "Papst vom anderen Ende der Welt", betont dies immer wieder und er lebt es selbst authentisch vor. Und das wirkt.



Interview auf www.katholisch.de am 19.05.2015