Umarmen und wieder loslassen

(in: Erik Purk, Freiheit. Der spirituelle Fastenbegleiter, Stuttgart 2011, 89-91)

 

„Leben heißt, Menschen und Dinge umar-men und wieder loslassen, nichts und niemanden besitzen wollen und über jeden Stern jauchzen, der vom Himmel fällt“, schreibt Phil Bosmans. Zum Geheimnis des Lebens gehört das Lassen. Manchmal glaube ich, dass es die Kunst des Lebens ist, das Loslassen einzuüben. Denn alles in uns ist auf Festhalten programmiert.

 

„Was du weggibst, ist dein, was du behältst, geht dir verloren.“ Dieses Wort stand auf einer Spruchkarte, die mir einmal zu Beginn der Fastenzeit ein Bekannter schickte. Wie ist das zu verstehen? Jeder hat nur das, was er gibt! Der Widerspruch dieses Satzes zur eigenen Erfahrung ist einsichtig. Was ich weggebe, darüber kann ich nicht mehr verfügen. Wieso kann man behaupten: Was du weggibst, ist dein?

 

Was aber besitze ich wirklich? Wenn ich etwas Kostbares in der Hand halte und die Faust darum balle, verliert es mit der Zeit seinen Wert. Ich muss die Hand öffnen, das Kostbare anschauen, es anderen zeigen. Ich muss es zwischen „dir und mir“ ins Spiel bringen. Dann behält es seine Bedeutung.

 

Der Schatz, den wir im Tresor verschließen, mag uns ein sicheres Gefühl verleihen. Aber sogar die Wirtschaft spricht vom toten Kapital. Das Talent, das wir im Acker vergraben, wird uns, wie die Bibel sagt, wieder genommen (siehe Mt 25, 14-30).

 

Nur in der Offenheit und Freiheit entfaltet sich der Mensch. Im Geben, nicht im Festhalten; im Schenken, nicht im Vergraben; im Lieben, nicht im Verweigern finden wird das Leben. Die Heilige Schrift sagt es in einem Bild: „Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, bleibt es allein; wenn es aber stirbt, bringt es reiche Frucht“ (Joh 12, 24). Wenn das Korn sich weigert und nicht in die Erde will, wird es vergehen und nutzlos sein.

 

Alles ist hineingenommen in den ewigen Kreislauf von Aussaat und Ernte. Wer nur an sich denkt, wer ängstlich festhalten will, verdirbt. Er wird Sklave seiner Besitzstände. Er wird durch Verlustangst gepeinigt. Aber wer sich schenkt, wird frei und findet neues Leben.

 

Wo aber sind das die Grenzen der Hingabe? Wir können doch nicht alles preisgeben und totale Selbstopferung fordern. Man könnte uns ausnützen und ausbeuten.

 

Wir müssen unterscheiden zwischen „sich geben“ und „sich vergeuden“. Der Unterschied zwischen „sich geben“ und „sich vergeuden“ besteht nicht darin, dass der eine sich wohldosiert gibt, der andere aber total, ohne Vorbehalt.

 

Der Unterschied liegt nicht im Maß, wie einer sich gibt. Der Unterschied zwischen „sich geben“ und „sich vergeuden“ liegt vielmehr im Du. Nur, wenn ich mich Dir gebe, vergeude ich mich nicht. Mein Leben ist nicht adressiert an ein Nichts, sondern hingeordnet auf ein Du, auf Menschen, die mich annehmen und bejahen. Ich bin nicht da für eine Institution, die mich degradieren und missbrauchen kann. Bischof Klaus Hemmerle formulierte: „Im Du geht das Ich nicht verloren.“

 

Diesen Weg ist Christus gegangen. „Jesus Christus war wie Gott, hielt aber nicht daran fest, Gott gleich zu sein, sondern entäußerte sich, wurde wie ein Knecht und den Menschen gleich“ (nach Phil 2,6f.) Er hält nicht fest, er „entäußert sich“, er gibt sich hin und wird Brot für das Leben der Welt.

 

Wer diesen Weg der Freiheit geht, wird erfahren, was Wort bedeutet: „Was du weggibst, ist dein, was du behältst, geht dir verloren.“ Denn was bleibt dir vom Leben? Nur was du gegeben in Liebe, das bleibt. Wenn du leben willst, wagen zu lieben.

 

Wort durch den Tag:

 

„Was du weggibst, ist dein, was du behältst, geht dir verloren.“