Begegnung mit dem eigenen ICH


Kaum eine Zeit im Jahr ist so prädestiniert für Stunden an der frischen Luft, Ausflüge und Aktivitäten wie die Urlaubs- und Sommerzeit. Zugleich ist sie eine Chance, zur Ruhe zu kommen und unseren tiefsten Sehnsüchten nachzuspüren.

Begegnung mit dem eigenen ICH

Die Sehnsucht nach Mehr, nach Sinn und letztlich nach Gott hat einen modernen Namen bekommen: Spiritualität. Der hl. Franz von Assisi hatte in seinem Leben eigentlich alles und doch wuchs in seinem Inneren eine „Sehnsucht nach Mehr“, eine Sehnsucht nach Frieden, nach echtem Leben, nach Liebe und Hingabe und v. a. eine Sehnsucht nach Gott.

 

Wir haben heutzutage zumindest in den reichen Industrieländern auch alles, was unserem Leben Halt und Sicherheit gibt und doch wächst eine neue Sehnsucht nach Spiritualität in den Herzen der Menschen, die Verlorenes und Verschüttetes wieder lebendig werden lassen möchte. Sehnsucht und Spiritualität sind wichtige Grundmotive menschlichen Suchens und Strebens, die uns zu mehr Lebendigkeit und inneren Frieden einladen wollen.

 

Sehnsucht treibt uns an wie eine Schwungfeder, sie zieht uns wie ein Magnet zu erfüllender Existenz. Wie ein roter Faden im Leben will sie uns zwischen Misslingen und Erfolg, zwischen Scheitern und Gelingen am Leben halten und zu Lebenstiefe, Sinn und letztlich zu GOTT führen. Rainer Maria Rilke schreibt: „Wenn die Sehnsucht größer als die Angst ist, wird Mut geboren. Ohne Sehnsucht machen wir uns nicht auf den Weg.“ Und der in Europa meist gelesenste christlich-spirituelle Autor P. Anselm Grün OSB sieht in der Sehnsucht neben Glaube, Hoffnung und Liebe die wichtigste spirituelle Kraft in uns Menschen.

 

Die meisten Menschen suchen heute keine theoretischen und kirchlich vorgegebenen Antworten auf ihre Sinn- und Gottsuche, sondern Hilfen, die direkt aus dem Leben kommen. Sie suchen Begegnungen und Räume, wo sie Lebens- und Glaubenserfahrungen machen können.

 

Dazu ein Beispiel: Eine 46-jährige Hausfrau und Mutter von zwei erwachsenen Töchtern, erlebte im Laufe der Zeit die zunehmende Entfremdung von ihrem Kinderglauben und ging kaum noch in die Kirche. Depressionen verdunkelten ihr Leben. Sie war bei vielen Ärzten und Psychotherapeuten – das Grundproblem wurde nicht gelöst, bis sie ihre persönliche Spiritualität fand. Sie schreibt: „Nach all den Krisen entdeckte ich, dass ich mit meinen Sorgen und Ängsten gar nicht alleine bin. Da ist jemand, dem ich alles sagen kann, der mich an der Hand nimmt und führt. Dieser jemand ist für mich Gott. Wie aber gestaltet sich die Begegnung mit Gott? Er kommt ja nicht wie ein Gast, den ich in mein Wohnzimmer lasse und dem ich Kaffee und Kuchen serviere. Er kommt in mein Herz. In meinem Herzen biete ich ihm einen Platz an. Gott diesen kleinen Platz frei zu räumen ist viel wert, doch dies ist mit Worten nicht leicht zu beschreiben ... Dieser Raum entsteht durch die Sehnsucht, die ich nach Gott aussende. Wenn ich mich auf ihn konzentriere, mich mit allen meinen Sinnen, mit Herz und Verstand auf ihn ausrichte, dann kommt er. Ich muss nicht einmal dabei beten, ich spüre nur, dass da etwas mit mir geschieht und ich fange zu lächeln an ...“

 

 

Die eigene Sehnsucht fragen


Wie komme ich zu einer Begegnung mit Gott? Ich darf mich für diese heilende Begegnung vorbereiten. Es gibt heute viele Angebote der Lebenshilfe, der Lebensorientierung und Kreativität, der Stille, der Kontemplation und des Einübens von Körperhaltungen und Gebetsübungen. All diese „Vorbereitungen zur Begegnung mit Gott“ wollen Erfahrungsräume bieten, die heutiges Leben und Glauben lebendiger werden lassen. Echte Spiritualität lässt ganz werden: „Je mehr ich Gott begegne, desto mehr werde ich auch mit mir selbst konfrontiert. Und umgekehrt: Je mehr ich mich selbst kennenlerne, desto mehr spüre ich, dass in mir eine tiefe Gottessehnsucht ist, die gestillt werden will“ (Anselm Grün).

 

Wenn ich innere Wege zu meiner Sehnsucht suche und gehe, dann finde ich Halt, Geborgenheit, Frieden, mich selbst und Gott. Sehnsucht umfasst Gedanken, Gefühle, Wünsche, Phantasien, Träume und Tagträume. Sie ist das Einfallstor Gottes und der Antrieb, der immer wieder neu aufbrechen lässt. Es führt in eine innere Haltung der Achtsamkeit, wenn ich mein Herz nach seiner Sehnsucht befrage, wie es die italienische Schriftstellerin Susanna Tamaro in ihrem Roman „Geh, wohin dein Herz dich trägt“ schön beschreibt: „Und wenn sich dann viele verschiedene Wege vor dir auftun werden und du nicht weißt, welchen du einschlagen sollst, dann überlasse es nicht dem Zufall, sondern setz dich und warte. Atme so tief und vertrauensvoll, wie du an dem Tag geatmet hast, als du auf die Welt kamst, lass dich von nichts ablenken, warte, warte noch. Lausche still und schweigend auf dein Herz. Wenn es dann zu dir spricht, steh auf und geh, wohin es dich trägt.“

 

Neben diesem achtsamen Warten und Lauschen auf die Stimme des Herzens können wir auch Zwiesprache mit unserer Sehnsucht führen. Folgende Übung will dabei behilflich sein:

 

Ziehen Sie sich für diese Übung an einen ungestörten und ruhigen Ort zurück, einen Platz also, an dem Sie sich mit der Lebensenergie verbunden fühlen. Das kann der Meditationsplatz in Ihrer Wohnung ebenso sein wie eine Kapelle oder ein Ort in der Natur.

 

Sammeln Sie sich innerlich. Rufen Sie dann Ihre Sehnsucht herbei und bitten diese, sich zu zeigen. Schauen Sie genau hin, welche Bilder vor Ihrem inneren Auge entstehen. Welches hat die größte Anziehungskraft?

 

Fragen Sie dieses Sehnsuchtsbild: Was möchtest du mir sagen? Wohin möchtest du mich führen? Sie werden überrascht sein, wie deutlich die Stimme der Sehnsucht zu Ihnen sprechen wird. Wenn Sie auf diesem Wege erst einmal in Kontakt mit Ihrer Sehnsucht gekommen sind, können Sie diese jederzeit und überall um Rat fragen.

 

Solche Übungen geben nachweisbar seelisch stabilisierende Kraft, verringern Angst, Druck und das Gefühl, ein Hamster im Rad zu sein. Sie stärken das Immunsystem, verstärken das Gefühl einer „Geborgenheit im Leben“ und eines „Getragenseins von Gott“. Sie sind keine Weltflucht oder ein Rückzug in die Innerlichkeit, sondern Wege in die eigene Tiefe, zum Urgrund des Lebens und zu fröhlichem Engagement.

Artikel von P. Christoph Kreitmeir in "Andere Zeiten", Magazin zum Kirchenjahr 2/2015