Sehnsucht ist das Grundgefühl der Seele


Interview in der "Kleinen Zeitung" (Graz) vom 28.02.2016

zum Thema "Spiritualität"


Sehnsucht ist das Grundgefühl der Seele

Spiritualität hat Hochkonjunktur – warum ist das so?

 

PATER CHRISTOPH KREITMEIR: Das stimmt. Spiritualität ist heute ein weiter Begriff und keiner weiß genau, was drinnen ist. Es ist zu einem Lieblingswort der Esoterik geworden, obwohl sein Ursprung eindeutig im Christentum liegt. Es kommt aus dem Französischen und heißt so viel wie sich der Tiefe öffnen oder leben aus dem Geist. Der Boom ist eine Reaktion auf die materialistische, technisch durchgestylte Welt, in der wir leben. Und deswegen suchen die Menschen Freiräume. Die Kirche hat das gesehen - und antwortet auch darauf.

 

 

Was ist Spiritualität für Sie?

 

PATER CHRISTOPH: Für mich ist sie ein Zugang zu Gott. Es ist ein inneres Berührt werden. Es geht dabei nicht um ein theoretisches Wissen oder Rituale, sondern um ein existenzielles Ergriffen sein, das mein Leben ändert. Eine Falle kann sein, dass es sehr individualistisch wird.

 

 

Warum hängen trotzdem so viele Menschen der Esoterik an?

 

PATER CHRISTOPH: Weil sie mit der Kirche nichts mehr am Hut haben oder noch nie am Hut gehabt haben. Das ist zum Teil die Schuld der Kirche – Stichwort Missbrauchsfälle und andere Skandale. Einige suchen dann bei „freien Anbietern“ Antworten auf ihre drängenden Fragen. Der Haken ist nur, die meisten von denen wollen das Beste von ihnen: ihr Geld.

 

 

Haben die Kirchen etwas versäumt?

 

PATER CHRISTOPH: Man darf nie verallgemeinern. Es gibt Vertreter – wie den Wiener Pastoraltheologen Paul Michael Zulehner, die gute Antworten geben. Aber es gibt auch solche, die das verschlafen. Wir als Kirche müssen fundiertes Wissen gegen Scharlatanerie stellen.

 

 

Wie hängen Spiritualität und Sehnsucht zusammen?

 

PATER CHRISTOPH: Sehnsucht ist eine Triebfeder, die mich am Leben erhält. Der Benediktiner Anselm Grün sagt, die Sehnsucht ist die wichtigste spirituelle Kraft in uns, dieses Feuer dürfen wir nicht ausgehen lassen, damit unser Leben nicht erkaltet. Wir sollen Raum lassen, für Hoffnung und Traum. Wer also seine Sehnsucht nicht kennenlernt, der wird zu einem Spießbürger, dem das Materielle genug ist. Doch tief in seiner Seele wird er spüren, dass es nicht so ist. Wir unterscheiden auch zwischen der Scheinsehnsucht auf der einen Seite: Sie ist ein Energieräuber, sie hindert mich am Leben hier und jetzt und vertröstet mich mit falschen und leeren Versprechungen auf später. Im Laufe der Zeit hinterlässt sie innere Leere und raubt mir Lebenslust und Lebenskraft. Die echte Sehnsucht hingegen ist ein tiefes Gefühl, das mir Kraft gibt in schweren und verzweifelten Situationen. Sie ist wie ein Feuer, das in kalter Umgebung Leben erhalten und erhellen kann.

 

 

Wie ist Sehnsucht mit der Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod vereinbar?

 

PATER CHRISTOPH: Das ewige Leben soll nicht ein Rohrkrepierer meiner Lebendigkeit sein, sondern es soll heißen, dass ich meine jetzige Lebenszeit so nutze, dass es für mich gut ist, ebenso für den anderen – und ich Gott dabei nicht vergesse. Heute an Gott zu glauben, ist aber nicht mehr so einfach wie in früheren Zeiten. Der heutige Mensch ist verunsichert durch die Wissenschaft, aber auch gekränkt: Kopernikus und Galilei entdeckten, dass die Erde und damit auch der Mensch, nicht im Mittelpunkt des Universums stehen. Charles Darwin erkannte, dass wir vom Tierreich abstammen, Sigmund Freud, dass wir nicht Herr im eigenen Haus sind, unser Unterbewusstsein nicht im Griff haben. Trotzdem bleibt in jedem Menschen eine Sehnsucht nach mehr. Und das ist eine verbindende Kraft, denn wir alle – gläubig, andersgläubig oder ungläubig – sehnen uns nach Geborgenheit, lieben und geliebt werden, Glück, Freude, nach etwas für das es sich zu leben lohnt, nach Sinn und Gott.

 

 

Wie kann ich meiner Sehnsucht nach Gott nachkommen?

 

PATER CHRISTOPH: Durch Atem- oder Körperübungen, Meditation, Gebetsrituale. All diese Methoden helfen uns, zu uns selbst zu kommen und dadurch zu einem tieferen Grund. Was den Zeitpunkt betrifft: Eine alte Regel lautet: Was du in der Früh nicht tust, tust du den ganzen Tag nicht mehr. Der Sonntag eignet sich auch gut dafür: mit Fernsehgottesdiensten, geistliche Impulse oder dadurch, dass man selbst in die Kirche geht. Ich selbst praktiziere das Ruhegebet von Peter Dyckhoff. Das gibt mir eine innere Gelassenheit, die mir tagtäglich Kraft gibt.

 

 

Wie hängen Sehnsucht und Sucht zusammen?

 

PATER CHRISTOPH: Die Sucht zeigt sich starr und unbeweglich. Sie vermeidet die Auseinandersetzung mit Tieferliegendem, sie bringt innere Leere, Angst und Schmerz. Sie bildet nach und nach ein Gefängnis der Unfreiheit. Die Sehnsucht ist ein Grundgefühl der Seele und ist damit keine Krankheit. Sie führt den Menschen über sich hinaus und führt ihn ins Werden. Die geträumte Form der Sehnsucht wird oft begleitet von Wunschvorstellungen, die unerreichbar bleiben. Die produktive Seite ist der Zwischenraum zwischen dem Jetzt und dem Noch nicht. Leben heißt, diese Spannung aushalten – aber das kann der Süchtige nicht.

 

 

Sie zitieren in Ihrem Buch auch aus Sehnsuchtsliedern.

 

PATER CHRISTOPH: Musik ist ein wichtiger Ausdruck des Menschen. Wer singt, legt seine Seele hinein. Mir war es wichtig, heutige Spuren der Sehnsucht im Buch aufzunehmen. Mein eigenes Sehnsuchtslied ist „Charmaine“ von Mantovani: Wenn ich das höre, bin ich innerlich wieder ein kleiner Junge und spiele in meinem Elternhaus. Meine Mutter bügelt daneben und aus dem Radio ertönt dieses Lied. Mein Grundgefühl ist Geborgenheit, Friede, Behütet sein. Das ist kein Rückfall, sondern eine Wiederbelebung dieses Gefühls. „Music was my first love“ von John Miles liebe ich und bei den religiösen Liedern gefällt mir am besten: „Ich steh an deiner Krippen hier, o Jesu, du mein Leben.“

 

 

Worin liegt Ihre Sehnsucht?

 

PATER CHRISTOPH: Ich als geistlicher Mensch habe Sehnsucht danach, dass nach all dem kleiner Werden unseres Glaubens wir wieder den Schatz unseres Glaubens entdecken. Ich entdecke da immer wieder Perlen und Schätze. Ich habe die Sehnsucht, dass das vielen Menschen gelingt und dass meine Lebensform, also das Ordensleben, noch andere entdecken als eine tolle Alternative. Ich als Ordensmitglied entfliehe ja nicht der Realität, habe aber den Mehrwert meiner Lebensform entdeckt: Die Freiheit und Heimat in Gott. Das macht mich glücklich.


P. Christoph im Interview mit Monika Schachner, 28.02.2016, Kleine Zeitung, Graz