Predigt am 1. Mai - Patrona Bavariae, Lj. B – 2018


In vielen Kirchen und Kapellen begegnen wir Marienbildern. Auf den meisten dieser Bilder trägt Maria ihr Kind auf dem Arm oder auf dem Schoß. Sie zeigt uns Jesus. Sie lädt uns ein, ihn zu ehren.

 

Wir wollen Maria fragen: "Was bedeutet für dich Jesus? Was hältst du von ihm?" Maria wird antworten: "Jesus ist mein Sohn!" Die ganze Erfüllung und Freude einer Mutter wird aus ihren Worten sprechen.

 

Aber darin schwingt mehr mit als nur die ganz persönliche Freude einer Frau, die Mutter geworden ist. Maria ist ein Mitglied des jüdischen Volkes. Zusammen mit ihren Glaubensbrüdern und -schwestern hat sie auf den Messias gewartet. Und ausgerechnet in ihr Leben tritt die Erfüllung ein: "Du wirst ein Kind bekommen; einen Sohn wirst du gebären ... Gott der Herr wird ihm den Thron seines Vaters David geben."

 

Wenn wir darum Maria fragen: "Was hältst du von Christus?", dann wird sie antworten: "In ihm erfüllt sich das Warten und Hoffen vieler Generationen. In seinem Kommen hat der allmächtige und barmherzige Gott uns Heil geschenkt." In ihrem Sohn lernte Maria Gott kennen, jenen Gott, zu dem sie in ihren Psalmen gebetet und dessen Gesetz sie zur Richtschnur ihres Herzens gemacht hat. Wie Jesus die Jünger lehrt, den fernen Gott als Vater anzusprechen, begegnet Maria diesem Vater-Gott im Kommen ihres Sohnes. Johannes der Evangelist wird es später so formulieren: "So sehr hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eigenen Sohn für sie dahingab."

 

Mit jedem Schritt, den Jesus, ihr Sohn, macht, mit jedem Wort, das er spricht und jeder Tat, die er setzt, erlebt Maria, dass in Jesus Gott selber handelt. Ein ergreifender Austausch von Lehren und Lernen entwickelt sich zwischen Mutter und Sohn.

 

Jesus kümmert sich um die Kranken, die Ausgestoßenen und die Sünder. Er rafft nicht die Säume seines Gewandes zusammen, weil ihn die Berührung mit diesen Leuten sonst kultisch verunreinigt. Er beugt sich zu ihnen. Er liebt sie. Er heilt.

 

So also will Gott handeln, denkt Maria.

Jesus stellt die verstoßenen Aussätzigen in die Mitte. Er nimmt Partei für die Sünderin. Er duldet, dass eine Frau ihm die Füße wäscht. Er ruft ungebildete Fischer, damit sie das Evangelium verkünden. Er lobt den Glauben eines römischen Beamten.

 

So also will Gott handeln, denkt Maria.

Das alles erfüllt Maria mit Vertrauen zu Gott. Das alles macht ihr Leben zu einem dankbaren Lied.

 

Aber Jesus – das war auch etwas anderes. Über seinem Kopf ballte sich die Tragödie des Karfreitags zusammen. Marias Gebete werden zu Gott emporgestiegen sein, wie die Gebete vieler Mütter in allen Generationen zu Gott emporsteigen: Leid und Kreuz – das möge Gott verhüten! Aber Gott greift nicht ein.

 

Maria muss unter dem Kreuz stehen. Sie hält den gefolterten und getöteten Sohn in ihrem Schoß. Auf vielen Bildern, die wir Vesperbilder nennen, hält sie uns diesen Sohn heute noch entgegen. "Was hältst du jetzt von Christus, Maria?"

 

In seiner Person ist das Gericht über die Welt gekommen. Das Ausmaß der Sünde wird an seinem Körper sichtbar, wie das Ausmaß einer Naturkatastrophe am verwüsteten Weinberg sichtbar wird. Aber über die Finsternis des Karfreitags leuchtet bereits der Regenbogen des kommenden Ostertags.

 

Wenn wir Maria fragen: "Was hältst du von Christus?", so kann sie wie die meisten Mütter antworten: "Er war meine Freude und der Inhalt meines Lebens." Aber sie wird auch sagen müssen: "Er war die größte Prüfung meines Lebens."

 

Der Glaube, den Gott schon von Abraham forderte, trat auch an Maria nicht in dürren Glaubenssätzen heran und wurde von ihr nicht in hochgestimmten Bekenntnissen erwartet, sondern war unlösbar verbunden mit der Person ihres Sohnes.

 

Auch uns fragt Gott im konkreten Leben, durch Schicksalsschläge und Mitmenschen: "Was haltet ihr von Christus?"

 

Wir haben in der Spannung zwischen Karfreitag und Ostermorgen kein einziges Wort, das Maria gesprochen hätte. Wir finden sie allerdings wieder zusammen mit den Jüngern im Saal von Jerusalem, wo sie den Heiligen Geist erwartet. Als Mutter hat sie schmerzhafter als die Jünger gespürt, was es heißt, diesen Sohn loszulassen: zunächst in den Tod, dann in die Herrlichkeit des Vaters. Aber sie hat auch begriffen, was Jesus mit den Worten meint: "Es ist gut für euch, dass ich hingehe, damit der Geist zu euch kommt."

 

Wenn wir Maria fragen: "Was hältst du von Christus?", dann wird sie antworten: "Er ist der Sohn des lebendigen Gottes." Wenn wir uns darum von der Innigkeit der Begegnung zwischen Mutter und Kind auf den Marienbildern ansprechen lassen, dürfen wir gleichzeitig das Geheimnis nicht vergessen, das zwischen diesen beiden Personen liegt. Es ist ihr Kind – und er ist doch gleichzeitig der Sohn des himmlischen Vaters. Er ist ihr geschenkt – aber nur, damit sie ihn weggibt. In ihrem Gehorsam ahmt sie Gott nach, der seinen Sohn dahingab für das Leben der Welt.

Man muss lange vor einem Marienbild verweilen, um die Tiefe auszuloten, die in der Beziehung zwischen Mutter und Kind liegt. Aber dieses Verweilen lohnt sich, weil es uns Antwort gibt auf viele Fragen unseres Lebens. Dieses Verweilen lohnt sich, weil es uns still macht, damit wir wieder Gottes Wort in unserem Leben hören können.