Das Leben rückwärts betrachtet


Wenn immer möglich, suche ich mir im Zug einen Fensterplatz in Fahrtrichtung. Den meisten Mitreisenden geht es ebenso, diese Plätze sind begehrt und schnell besetzt. Nicht immer schaffe ich es, einen zu ergattern. Dann fahre ich gezwungenermaßen rückwärts. Ich bilde mir ein, das nicht zu mögen.

 

Mag ich es wirklich nicht?

 

Das Rückwärtsfahren hat jedenfalls seinen eigenen Reiz: Es erlaubt einen Blick in die Vergangenheit. Ich sehe zwar nicht, was auf mich zukommt, aber ich sehe, was hinter mir liegt. In jeder Sekunde taucht etwas Neues auf. Kaum nehme ich es wahr, ist es schon wieder vorbei. Rasend schnell wird die Gegenwart zur Vergangenheit, der ich noch einen kurzen Moment nachblicken kann.

 

Beim Vorwärtsfahren ist das Neue oft von weitem zu sehen, und ich kann mich darauf einstellen. Was kommt, scheint irgendwie berechenbar und unter Kontrolle. Fast könnte ich meinen, die Sache „im Griff“ zu haben und jederzeit eingreifen zu können, um den Verlauf der Dinge zu beeinflussen. Eine Illusion, ich weiß, aber manchmal trotzdem recht angenehm.

 

Beim Rückwärtsfahren bin ich immer zu spät. Ich habe keine Zeit, mich vorzubereiten. Ich werde überrascht. Plötzlich ist etwas da – und schon wieder weg. Immerhin bleibt für ein paar Sekunden der Blick zurück.

 

Weil ich beim Rückwärtsfahren nicht wissen kann, was auf mich zukommt, muss ich auch nichts tun. Ich kann es auch gar nicht. Ich kann zurücklehnen und die Dinge an mir vorbeiziehen lassen.

 

Rückwärtsfahren ist eine eigentliche Lebensschule.

 

Die erste und wichtigste Lektion heißt: Ich weiß nicht, was die Zukunft bringt. Ich kann mir zwar Vorstellungen machen und ich kann manchmal auch vorsorgen – aber vieles kommt anders, als ich geplant, erwünscht oder befürchtet habe. Es lohnt sich also nicht, mir große Sorgen zu machen.

 

Die zweite Lektion: Vieles steht nicht in meiner Macht. Meine Möglichkeiten sind begrenzt. Es gibt Dinge, die ich nicht beeinflussen kann. Die Zukunft liegt nicht allein in meinen Händen. Und oft kann ich nichts anderes tun, als zuzulassen, was kommen mag.

 

Die dritte Lektion: Erst im Blick zurück vermag ich die Dinge einigermaßen zu ordnen. Wenn ich in meinem Leben so etwas wie ein Muster erkenne, dann nur im Rückblick auf die Zeit, die hinter mir liegt. „Leben kann man nur vorwärts, Leben verstehen nur rückwärts“, schreibt Sören Kierkegaard.

 

Im Blick zurück kann ich die Spur meines Lebens verfolgen. Ich sehe und ahne zumindest, welche Bedeutung die Ereignisse der Vergangenheit für mein Leben haben. Je weiter der Blick zurückgeht, desto mehr fügen sich die vielen Erlebnisse zu einem Ganzen. Falls es so etwas wie Vorsehung gibt, dann ist sie erst im Nachhinein zu erkennen.

 

Wenn der Zug unterwegs hält und einige Abteile sich leeren, wechseln die Zurückgebliebenen rasch auf die frei werdenden Fensterplätze in Fahrtrichtung. Die Neuen haben das Nachsehen, sie müssen rückwärts fahren.

 

Aber wo ich auch sitze, eines bleibt gleich: Während sich draußen alles ändert und die Zukunft blitzschnell in die Vergangenheit übergeht, bin ich als Beobachter im Zug immer in der Gegenwart. Woher ich auch komme, wohin ich auch gehe – jetzt sitze ich im Zug und schaue aus dem Fenster.

 

Was ein Mensch als Gegenwart empfindet, entspricht nach den Erkenntnissen der Wissenschaft einer Einheit von knapp drei Sekunden. Das ist die kurze Zeitspanne zwischen zwei Wimpernschlägen: ein Augenblick. Und der Augenblick ist nach Kierkegaard „jenes Zweideutige, darin Zeit und Ewigkeit einander berühren“. Nehme ich diesen einzigartigen Moment wahr, ist es nicht mehr so wichtig, ob ich vorwärts oder rückwärts fahre.

 

(Lorenz Marti, Mystik an der Leine des Alltäglichen, Freiburg i. Br. 2016, 155-158)