Herr „Erstnoch“ und Frau „Hättichdoch“

von P. Heribert Arens OFM

(in: Heribert Arens/Martino Machowiak, Sei allem Abschied voran. Gedanken zu Abschied und Neubeginn, Kevelaer 2004, 40-42; Grafik: www.recordare.de, 2020)

 

Sie waren unzertrennbar, Herr Erstnoch und Frau Hättichdoch. Sie waren so gut wie verheiratet, doch sie trafen sich nie. Immer war Herr Erstnoch ein klein wenig schneller; oder muss ich sagen: Frau Hättichdoch kam immer kurz nach Herrn Erstnoch. Der aber war dann schon wieder von der Bildfläche verschwunden. Nur seine Spuren waren noch da und Frau Hättichdoch musste sehen, wie sie damit fertig wurde. Immer wieder trafen, nein verpassten sie sich bei einem Wesen, das sich Mensch nannte.

 

Dieser Mensch lag morgens im Bett. Als ihn sein Wecker aus den schönsten Träumen riss, war auch schon Herr Erstnoch neben dem Bett und flüsterte ihm ins Ohr: „Dreh dich erst noch auf die Winterseite und gönn dir noch fünf Minuten. Die holst du beim Rasieren nachher wieder heraus.“ Der Mensch hörte auf Herrn Erstnoch, drehte sich noch einmal herum, schlief wieder ein – und aus den fünf wurden fünfzig Minuten. Da sprang er erschrocken aus dem Bett und obwohl er sich nicht rasierte, als Frühstück nur eine trockene Schnitte Brot auf dem Weg herunterwürgte, fuhr ihm die Straßenbahn auch noch vor der Nase weg. Er kam zu spät zur Arbeit, bekam einen Rüffel vom Chef – und seine Frau saß verärgert zu Hause, weil er ihr in seiner Hektik schon ein paar Unfreundlichkeiten an den Kopf geworfen hatte. Und siehe, schon war sie da, Frau Hättichdoch, und wühlte in seinem Gewissen herum: „Hätte ich doch sofort auf den Wecker reagiert, wäre ich doch sofort aufgestanden, dann wäre mir all das erspart geblieben!“ Und gemeinsam mit Frau Hättichdoch schimpfte er auf Herr Erstnoch und seine Verführung.

 

Und dabei kannte er Herrn Erstnoch bereits bestens aus seiner Schulzeit. Damals war er mit Herrn Erstnoch befreundet, während Frau Hättichdoch zunächst sehr zurückhaltend war. Er sollte die Schulaufgaben machen, wollte aber erst noch die Fernsehserie sehen. Und dann musste er erst noch zum Fußballspiel. Als er am nächsten Morgen in der Schule eine schlechte Note bekam, da meldete sich Frau Hättichdoch: „Hätte ich doch gestern …“

 

Er hatte sich mit Herrn Erstnoch durch die Schulzeit gemogelt. Als er später seinen Studienplatz wegen schlechter Zensuren nicht bekam, meldete sich Frau Hättichdoch – leider zu spät.

 

Als es Zeit wurde, eine Familie zu gründen, konnte er sich nicht für ein Frau entscheiden, weil er immer erst noch warten wollt, ob es nicht noch eine besser gab. Erst wollte er nur die Beste, schließlich nach er die Erstbeste – und Frau Hättichdoch quartierte sich in ihrer Wohnung ein.

 

Und immer wieder spürte er in sich eine Unruhe, Gott näher auf die Spur zu kommen. Das hätte er auch geschafft, wäre da nicht Herr Erstnoch gewesen. Ständig meldete der sich zu Wort, wenn er ernst machen wollte. Er wollte beten – musste aber erst noch seine Zweifel klären. Er hätte ja in der Gemeinde mitgemacht, dazu musste sich aber erst noch der Pfarrer ändern – und die Gemeindemitglieder natürlich auch. Er wollte etwas für Armen geben, musste sich aber erst noch erkundigen, ob das Geld auch bei dieser Institution richtig angelegt war, man konnte ja nie wissen. Nur als der Tod vor der Tür stand und sagte „Mitkommen!“, da war Herr Erstnoch verschwunden und nicht mehr aufzufinden.

 

Und nun stand er vor Gottes Richterstuhl. Und wer stand mit feuchten Augen an seiner Seite? Frau Hättichdoch! Als er sie sah, fielen ihm alle seine Sünden ein: Hätte ich mir doch Zeit genommen für Gott! Hätte ich doch in der Gemeinde mitgearbeitet! Hätte ich doch für die Bedürftigen gespendet! Hätte, hätte, hätte – jetzt war es zu spät. Dieser Herr Erstnoch, er hat mir so viel zerstört! Er erhob seine Augen – und sah neben dem Richterthron Gottes Herrn Erstnoch stehen.

 

Der flüsterte in Gottes Ohr. Unklar waren Worte zu verstehen: „erst noch … Fegefeuer … büßen“. Schmunzelnd hörte Gott zu und schüttelte den Kopf. „Nein“, sagte er, „mein lieber Erstnoch, du hast Unheil genug angerichtet im Leben dieses Mannes; du hast ihn um so viel lebendiges Leben gebracht, um so viel Entfaltung und Lebensfreude, um so viel Hoffnung, Glaube und Liebe. Damit soll jetzt Schluss sein.“ Und er schloss den Mann, der sich um so viel Leben gebracht hatte, in seine Arme.

 

Herr Erstnoch schämte sich erst noch ein bisschen, aber dann verschwand er heimlich. Zu sehr waren ihm seine Machenschaften in Fleisch und Blut übergegangen. Er würde schon nicht arbeitslos werden, die nächsten Opfer warteten schon auf ihn.

 

Und Frau Hättichdoch? Die stand da und sah den, um den sie so manche Träne geweint hatte, selig in den Armen Gottes. Und man sah sie in dem Moment zum ersten Mal lächeln – bevor sie Herrn Erstnoch hinterherging, um seinen Opfern ins Gewissen zu reden.

 

Nachtrag:

 

Es gibt ja noch den ganz fiesen Typen „Morgenvielleicht“, aber das ist eine weitere Geschichte, die in unser aller Leben leider viel zu viel Raum inne hat…