Woran dein Herz hängt -

Ein kleiner Vogel lindert Kriegserlebnisse


Jesus und Petrus - Vertrauen

Nachtschichtbeginn in der Flüchtlingshalle der Johanniter am Ingolstädter Hauptbahnhof, 100 Feldbetten, dutzende müde, ausgelaugte Menschen, manche schwer traumatisiert, Kinder, Jugendliche, Frauen, ein paar Väter, einige Großeltern …

 

Ein Bild des Jammers für mich. Der Krieg rückt mir sofort bis unter die Haut.

Mir fehlen die Worte.

 

Doch da höre ich ein Vogelzwitschern.

Wenige Meter vor mir springt quicklebendig ein kleiner gelber Kanarienvogel in seinem Käfig auf und ab, begrüßt jeden Vorbeikommenden mit lauten Gezwitscher, freut sich sichtlich seines Lebens.

 

Die Mütter mussten, so erfahre ich im Gespräch, alles zurücklassen bis auf das Wenige, das sie tragen konnten. Die Kinder sind mit dabei, der Vater blieb wohl als Soldat in der Heimat.

 

Als sie hier ankamen, hatten sie einen verbeulten Schuhkarton dabei, darin zappelte etwas: Es war ihr kleiner Vogel. Und in einer Tragetasche lag etwas zerknautscht ein weiteres Familienmitglied: Ihre Katze. Für den kleinen Piepmatz spendete ein großes Kaufhaus sofort einen respektablen Käfig.

 

Es hätte sicher „Wertvolleres“ gegeben, das man mit auf die Flucht hätte nehmen können als Katze und Vogel. Aber das, woran das Herz hing, war offensichtlich etwas Anderes.

 

Mir hat diese kurze Begegnung meine eigenen Wertmaßstäbe wieder mehr zurechtgerückt. Und es hat mich bewegt, wie selbstverständlich es für die Helfer war, die „Großfamilie“ zusammen zu halten und sie so zu unterstützen.

 

Und da saß er nun, der kleine, zarte Vogel, zwischen seinen Menschen, und sang sein Lied.

Für mich war es ein Lied von Hoffnung und tiefer Menschlichkeit, einer Menschlichkeit, die mir stärker scheint als alle Gewalt, alles Unrecht, alle Unterdrückung.

 

(Horst Schall: Evang. Klinikseelsorger und Standortpfarrer der Johanniter in Ingolstadt)