Die Spur der Barmherzigkeit in den Weltreligionen


Am 11.04.15 rief Papst Franziskus mit einer Bulle ein „Jahr der Barmherzigkeit“ für die katholische Weltkirche aus, welches dem „Jahr der Orden“ folgen wird.

„Die Barmherzigkeit ist auch über die Grenzen der Kirche hinaus bedeutsam.

Sie verbindet uns mit dem Judentum und dem Islam“,

so schreibt Papst Franziskus in dem erwähnten Schreiben.


Weltreligionen im Dialog

Diese Verbindung gibt es aber nicht nur bei den drei monotheistischen Religionen Christentum, Judentum und Islam. Barmherzigkeit ist eine der wichtigsten Eigenschaften Gottes in allen Weltreligionen.

 

Dieser Tatsache will ich nun etwas nachgehen, nicht zuletzt auch deswegen, weil ich im Januar 2015 während einer Reise durch Indien die wichtigsten Weltreligionen persönlich und konkret kennenlernen durfte.

..................................................

Hinduismus

Hinduismus

Gott selbst ist ein Ozean von Gnade und Barmherzigkeit. Barmherzigkeit ist eine Freundin der Güte, Geduld, Sanftmut und Anmut und weitet das begrenzte Herz so weit wie den Himmel. Barmherzigkeit ist Mitgefühl, mehr als das, sie ist tätige Nächstenliebe. Sie ist göttlich, denn sie beinhaltet nicht nur Mitempfinden, sondern auch Vergebung, Liebe und Dienst.

..................................................

Buddhismus

Buddhismus

Barmherzigkeit wird hier als eine geistige Grundhaltung – Mitgefühl (Karuna) – gesehen, die das Ergebnis meditativer Einsicht und Erlebens ist und somit keinem imperativen „Du sollst!“ folgt. Karuna (Mitgefühl) ist eine der vier Brahmaviharas (himmlische Verweilzustände oder grenzenlose Geisteszustände), in denen versch. Formen zwischenmenschlicher Verbundenheit beschrieben werden. Diese sind Liebe, Mitgefühl, Mitfreude und Gleichmut.

..................................................

Judentum

Judentum

Barmherzigkeit ist eine der herausragendsten Eigenschaften Gottes. Gott gibt sich Mose auf dem Berg Sinai zu erkennen: „Jahwe ist ein barmherziger und gnädiger Gott, langmütig, reich an Huld und Treue.“ (Ex 34, 6). Barmherzigkeit bedeutet im jüdischen Denken, dass Gott die Sünde zwar sieht, er sie aber verzeiht und dem Bund mit seinem Volk treu bleibt. Das Judentum hat nie Mission betrieben. Es hat niemanden eingeladen, jüdisch zu werden. Aber es lud immer wieder dazu ein, die vielfältigen Formen von Sklaverei und Tod zu verlassen und sich auf den Weg der Freiheit und des Lebens zu begeben.

..................................................

Christentum

Christliche Barmherzigkeit

Barmherzigkeit steht im Mittelpunkt des christlichen Glaubens. Christen glauben, dass Jesus von Nazareth der Christus, der Sohn Gottes, der Erlöser der Welt ist. Er ist die menschgewordene Barmherzigkeit Gottes. In seiner Bergpredigt heißt es: „Selig sind die Barmherzigen, denn sie werden Erbarmen finden“ (Mt 5, 7). Barmherzigkeit (lat: misericordia – miser = mitleidig und cor = Herz) ist das Wesen Gottes und eine Eigenschaft des menschlichen Charakters. Im christlichen Glauben gibt es sieben leibliche Werke der Barmherzigkeit: Hungrige speisen, Dürstenden zu trinken geben, Nackte bekleiden, Fremde aufnehmen, Kranke und Gefangene besuchen und Tote begraben. Dazu gesellen sich die sieben geistigen Werke der Barmherzigkeit: Unwissende lehren, Zweifelnden recht raten, Betrübte trösten, Sünder zurechtweisen, Lästige geduldig ertragen, denen, die uns beleidigen, verzeihen und für Lebende und Tote beten.

..................................................

Islam

Islam

Auch wenn man durch das zunehmende Auftreten von Extremisten, die den Islam missbrauchen, oft einen anderen Eindruck hat: in der Mitte des Islam steht die Barmherzigkeit. „Bismi llahi l-rahmani l-rahim“ - Im Namen Gottes des Allerbarmers, des Allbarmherzigen. So beginnt der Koran, es ist der erste Vers der ersten Sure. Überschriftartig steht er am Anfang und zieht sich durch den ganzen Koran. Zu den häufigsten Namen Allahs gehören „Ar-Rahman (Allerbarmer)“ und „Ar-Rahim (Allbarmherziger)“. Allahs Liebe kann dem Menschen zuteil werden, wenn er sie annimmt. Barmherzigkeit – das Geben von Almosen – ist die vierte der fünf Säulen des Islam. Die anderen sind: das Bekenntnis zu Allah, das Gebet, das Fasten und die Pilgerreise nach Mekka. Alle Moslems sind zur Barmherzigkeit verpflichtet, denn „diejenigen, die nicht barmherzig sind, werden keine Barmherzigkeit erlangen“.


Außer im Buddhismus gab es in allen Religionen zu verschiedenen Zeiten Verwirrungen und Hinwendung zu Exklusivität und auch zur Gewalt. Jüdische Landnahmen (beschrieben im alten Testament), Kreuzzüge, zu Gewalt aufrufende Koransuren oder hinduistische Kriege. Heutzutage zeigen sich leider wieder verstärkt solche Tendenzen. Religion und Heilige Schriften können eindeutig missbraucht werden.

 

Die Ausrufung eines Jahres der Barmherzigkeit durch Papst Franziskus kann diesen Irrwegen entgegenwirken. Es kann über die Grenzen der eigenen Religion hinausgeschaut und es können verbindende Brücken zu anderen Religionen und Weltanschauungen gebaut werden. BARMHERZIGKEIT ist die stabilste Brücke, die alle Religionen im Innersten verbindet.

 

 

 

Artikel und Fotos: Pater Christoph Kreitmeir OFM, erschienen in:
Basilika - Informationen für Freunde von Vierzehnheiligen, Nr. 43, 22. Jg., 2015/2, S. 4-5